Workation oder: Feierabend in einem anderen Land
Wenn ich sowieso 100% remote arbeite, dann kann ich auch mal so eine Workation ausprobieren, so war mein Gedanke. Schon saß ich in einem Coworking space in Tallinn, Estland. Ihr denkt jetzt an junge Hipster in bunten T-Shirts, die an ihrem selbst gegründeten Start-up arbeiten, eine pausenlos laufende Kaffeemaschine, laut in diversen Sprachen telefonierende Unternehmerinnen, eine Lounge, in der Menschen auf Sitzsäcken schlafen oder auf ihren Laptop starren? Genau so ist es auch.
Neben Startups in bester Gesellschaft
Ich habe eine Ferienwohnung in der Altstadt von Tallinn gemietet und fahre montags bis freitags in zehn Minuten mit dem Bus “ins Büro”. Als Coworking space habe ich mir Spring Hub ausgesucht, weil man hier einen zusätzlichen, externen Bildschirm mieten kann - unerlässlich für mich als Frontend-Entwicklerin. Ich bekomme einen festen Schreibtischplatz in einem wunderschönen großen Studio. Die Schreibtische sind in dutzenden Inseln aufgereiht. Es gibt beruhigendes Vogelgezwitscher vom Band, mit Kletterpflanzen umrankte Säulen und bunte Bilder an den Wänden. Dieser Arbeitsbereich ist eine “silent zone”, es darf nicht gesprochen werden. Ehrlich gesagt, hier kann ich mich besser konzentrieren als zuhause. Die Arbeitsatmosphäre ist hell, angenehm und ruhig, keine Ablenkung, wie man sie manchmal in den eigenen vier Wänden verspürt. Für Meetings schnappe ich mir meinen Laptop und gehe in eine der kleinen, schallisolierten Telefonbuden mit Glastür. Zugegeben, nach einer Stunde wird die Luft darin etwas knapp und bei manchen Besprechungen vermisse ich meinen zweiten Bildschirm, aber die meiste Zeit ist es kein Problem. Ich treffe meine Kolleginnen und Kollegen täglich im virtuellen Shopgate-Büro, wir tauschen uns in den virtuellen Meetingräumen und über Slack aus.
Der Gemeinschaftsraum in meinem Spring Hub-Coworking ist gleichzeitig Küche, Begegnungsstätte und Arbeitsplatz für Leute, die beim Arbeiten gern mehr Geräusche um sich haben. Hier wird Müll getrennt und wer die Spülmaschine ausräumt, darf sich eine Banane oder einen Apfel aus dem Obstkorb nehmen. Neue Mitglieder werden mit Foto und einem Fragenkatalog an der Pinnwand vorgestellt. Es dauert nicht lange, bis mich die ersten ansprechen, sich als Coding Mentor anbieten oder mich fragen, wie mir Tallinn gefällt und welches Startup ich gegründet habe. Wenn ich von Shopgate erzähle - natürlich ohne mich als Gründerin auszugeben! - gibt es viel Interesse und Zustimmung für die Idee. Die meisten arbeiten auch in der IT, ansonsten ist von Crypto bis Proteinpulver alles an Themen vertreten, was man sich in einem Startup-Hub so vorstellt. Ebenso international sind die Mitglieder: Neben Esten sind hier unter anderem Kasachen, Indern, Ukrainern, Slowakeni und Türken dabei. Jede Woche kommen neue Gesichter dazu. Von allen bekomme ich Tipps für die besten Restaurants, Bars und Ausflugsziele in der Gegend.
Raus aus dem Büro, rein in die Altstadt
Nach Feierabend geht es in die Stadt. Die Altstadt von Tallinn ist so klein, dass ich überall zu Fuß hinlaufen kann. Es ist mit Abstand die schönste Altstadt, die ich je gesehen habe. Offensichtlich ist Tallinn in den letzten Jahrhunderten zwar nicht vor fremder Besatzung, aber zumindest vor Bomben und anderen Kriegsschäden verschont geblieben. Die Straßen bestehen aus Kopfsteinpflaster, die vielen Gassen mit den alten, schiefen Häusern sind bestens renoviert und absolut entzückend.
Plötzlich ist es Mitternacht, immer noch nicht richtig dunkel und immer noch warm - Mittsommer im Juli kann ich sehr empfehlen. Die eine Stunde Zeitverschiebung ist ganz angenehm: Ich kann morgens länger schlafen, wenn ich am Vorabend mal wieder zu lange durch die Altstadt spaziert bin, den Sonnenuntergang von der alten Stadtmauer beobachtet und in den schicken Bars und Restaurants gesessen habe. Wenn ich dann erst um 10 Uhr im Büro bin, ist es in Deutschland erst 9 Uhr morgens und damit meine übliche Anfangszeit. Das passiert mir vor lauter Begeisterung in der ersten Woche häufiger, danach pendle ich mich auf einen früheren Rhythmus ein. Ich bin schließlich drei Wochen hier und habe genug Zeit, jeden Kopfsteinpflasterstein einzeln zu begutachten.
Am Wochenende steige ich in den nächsten Bus und fahre quer durch’s Land nach Pärnu, denn mir wurde versprochen, dies sei die Sommerhauptstadt von Estland. Tatsächlich erstreckt sich hier ein riesiger Strand und ich schwimme im Baltischen Meer neben estnischen Freunden und Familien, für die Temperaturen über 30 Grad, wie an diesem Wochenende, absoluter Wahnsinn sind. Doch man kann diese Temperaturen auch am Hafen von Tallinn gut ertragen, mit einem Smoothie am Meer oder einem Cocktail in einer Bar an der Hafenpromenade.
Tipps für eine gelungene Workation
Bei Shopgate ist es möglich, für eine Weile aus einem anderen EU-Land zu arbeiten. Meine Workation war fantastisch und ich weiß auch warum, daher hier einige Tipps.
Dein Arbeitsplatz: Überlege dir, welche Arbeitsumgebung du brauchst und recherchiere Coworking spaces, wenn du Lust hast, andere Leute zu treffen. Brauchst du eher einen ruhigen Arbeitsplatz und einen zweiten Bildschirm? Oder telefonierst du die meiste Zeit und musst spontan auf Anrufe reagieren? Dann ist es vielleicht einfacher, deinen Laptop in der Ferienwohnung aufklappen und dort zu arbeiten. Ich habe es allerdings als sehr bereichernd empfunden, andere Leute im Coworking kennenzulernen.
Deine Wohnung: Willst du eine Wohnung mit Küche, um zu kochen, oder lieber ein Hotelzimmer, wo du dich um nichts kümmern musst? Meine Erfahrung war, dass ich letztendlich nie gekocht habe, sondern immer draußen unterwegs war und mein Frühstück und Mittagessen im Coworking stattgefunden hat. Falls du allerdings in der Wohnung arbeitest, solltest du dir etwas Größeres mit Schreibtisch und Kühlschrank gönnen.
Deine Zeit: Nimm dir ein paar Tage Urlaub nach der Anreise, um dich zu orientieren und dir die Stadt anzuschauen. So hast du auch die Möglichkeit, nochmal die Wohnung zu wechseln, falls du vor Ort feststellst, dass das Zimmer oder die Gegend für dich doch nicht so funktionieren. Meine Workation hatte mit drei Wochen eine ideale Dauer, um ein richtiges Lebensgefühl in der Stadt zu entwickeln und an den Wochenenden auch noch das Land zu erkunden.